Wohl kaum ein Begriff wird im betrieblichen Marketing so vage und undifferenziert eingesetzt wie jener der Customer Journey. Von vielen strapaziert, von wenigen verstanden geistert die Customer Journey durch die Abteilungen wie der heilige Gral. Aber gibt es die “eine” Customer Journey? Was steckt hinter diesem Begriff? Wie verändert sich die Customer Journey durch das mobile Zeitalter und seine diversen Touchpoints?
Das AIDA-Modell
Das AIDA-Modell ist eines der ersten, das die Kaufentscheidung eines Kunden systematisch abbilden soll. Entwickelt wurde es bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Elmo Lewis. AIDA steht als Akronym für die einzelnen Stufen, die zu einer Kaufentscheidung führen können:
- A wie Attention – Aufmerksamkeit
Im ersten Schritt wird die Aufmerksamkeit des potenziellen Kunden errungen. - I wie Interest – Interesse
Die Aufmerksamkeit wird weiter entwickelt und führt zu Interesse an dem Produkt. - D wie Desire – Verlangen
Schießlich verlangt es den potenziellen Käufer danach, das Produkt zu besitzen. - A wie Action
Der potenzielle Kunde wird zum Käufer, indem er die Kaufentscheidung in die Tat umsetzt.

In jeder dieser Stufen kann durch spezielle Werbemaßnahmen eingegriffen werden – daher handelt es sich beim AIDA-Modell auch um ein Modell aus der Werbepsychologie. Das Modell zeigt anschaulich anhand einer linearen Abfolge, welche Stationen der Kunde durchläuft, bevor er zum Käufer wird. Daher wird es auch heute noch für Schulungen zu Verkaufsgesprächen eingesetzt. Aufgrund seiner einfachen Struktur erfreut das AIDA-Prinzip sich nach wie vor großer Beliebtheit. Die sehr einfache und lineare Abfolge der einzelnen Stufen ist aber auch der größte Kritikpunkt an dem Modell, das daher nur oberflächliche Anhaltspunkte für das Kaufverhalten der potenziellen Kunden bietet.
Die “Moments of Truth” von Procter & Gamble
Einen wesentlichen Beitrag zur Visualisierung der Customer Journey machte Procter & Gamble, deren Chef Alan G. Lafley 2005 das Prinzip der Moments of Truth einführten – das Modell erfreut sich seitdem großer Beliebtheit. Im Kern geht es um drei entscheidende Momente in der Beziehung zwischen Händler und Kunde:
- Stimulus
Der Kunde wird einem Reiz ausgesetzt – zum Beispiel einer Werbung in einer Zeitschrift - First Moment of Truth
Der Kunde hat am “Point of Sale” Kontakt mit dem Artikel – zum Beispiel mit der Produktverpackung im Regal eines Supermarktes. Jetzt kommt der erste “Moment der Wahrheit” – der Kunde entscheidet sich für oder gegen das Produkt. - Second Moment of Truth
Der Zweite “Moment der Wahrheit” passiert, wenn der Kunde das Produkt erstmals benutzt. Er macht seine Erfahrung, die positiv oder negativ sein kann. - Third Moment of Truth
Von der Erfahrung des Kunden im Second Moment of Truth hängt letztlich seine Neigung zur Empfehlung und zum Wiederkauf ab – doch diese beiden Faktoren sind im ursprünglichen Modell noch nicht explizit enthalten. Sie wurden als “Third Moment of Truth” 2006 durch Pete Blackshaw (ebenfalls Procter & Gamble) ergänzt. Der dritte Moment der Wahrheit spielt sich also im Umfeld des Kunden ab und charakterisiert, ob der Kunde seine Erfahrung mit anderen Personen teilt oder gar in sozialen Medien erwähnt.

In der hier gezeigten klassischen Form berücksichtigt das Modell keine digitalen Verkaufswege – vielmehr steht die klassische Kaufentscheidung im Ladengeschäft im Fokus der Betrachtung. Procter & Gamble hat also ein Modell für die Customer Journey geschaffen, das primär das eigene Segment der Konsumgüter betrachtet, die durch geringe Preise, hohe Frequenz und geringe Relevanz des Distanzhandels charakterisiert werden.
Customer Decision Journey von McKinsey
Die bisher gezeigten Modelle blenden zwei entscheidende Faktoren aus: Einerseits werden bisherige Erfahrungen mit dem Produkt nicht berücksichtigt – vielleicht handelt es sich um ein Spülmittel, das häufig ersetzt – also neu gekauft wird?
Auf der anderen Seite sendet auch die Herstellermarke ein fundamentales Signal an den Kunden. Diese beiden Faktoren werden im Customer Decision Journey Modell von McKinsey berücksichtigt:
- Initiales Set
Im ersten Schritt werden bestimmte Marken im “relevanten Set” für die Kaufentscheidung berücksichtigt. - Aktive Evaluation
Der potenzielle Käufer informiert sich über Produkte und Marken – Marken werden von der Kaufentscheidung ausgeschlossen oder hinzugefügt. Das Modell richtet sich daher vornehmlich an Kaufentscheidungen mit hohem Involvement – also Produkte mit hohem Preis oder hoher emotionalem Anteil. - Kauf
Der potenzielle Kunde wird zum Käufer und entscheidet sich für ein Produkt einer Marke. - Erfahrung
Der Käufer sammelt Erfahrungen mit dem Produkt und bezieht diese in zukünftige Kaufentscheidungen mit ein. Der Effekt kann eine Markenloyalität sein – aber natürlich auch das Gegenteil davon. Vielleicht hat der Kunde ein Apple iPhone gekauft, ist zufrieden und zieht nun auch ein PowerBook in Betracht? Das Ziel von Marketing und Produktmanagement ist der Loyalty Loop, in dem der Kunde die gewählte Marke auf lange Sicht bevorzugt. Durch den Loyalty Loop wird die Phase der Aktiven Evaluation abgekürzt – der Kunde bleibt der gewählten Marke treu, ohne alternative Angebote in Betracht zu ziehen.

Die Kernbotschaft des Customer Decision Modells von McKinsey ist, das wir die Kaufentscheidungen nicht analysieren können, ohne vorherige Erfahrungen in Betracht zu ziehen.
Google und der Zero Moment of Truth
Die Modelle, die hier bislang dargestellt wurden, haben eine erstaunlich traditionelle Sicht auf die Kunden und ihre Kaufentscheidung. Wo bleibt das digitale Zeitalter und die Generation Mobile? Die Antwort auf diese Frage kommt von Google, die zu diesem Zweck eine simple Anpassung am Modell von Procter & Gamble vorgenommen haben:
Google sieht vor dem First Moment of Truth – dem Kauf eines Produktes einen weiteren Moment der Wahrheit. Der Zero Moment of Truth steht dabei für die erste Suche bzw. dem ersten Kontakt mit dem Produkt. Dieser kann auf verschiedene Weise zustande kommen – beispielsweise durch eine Google-Suche oder aber einen Freund oder Influencer, der das Produkt in einem Social-Media Post, einem Blog-Eintrag oder einem Video erwähnt.
Somit wird auch eine Rückkopplung relevant: Eine positive Erfahrung (Second Moment of Truth) erhöht die Wahrscheinlichkeit des Teilens (Third Moment of Truth), was wiederum entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmbarkeit im Freundes- oder Influencer-Kreis hat (Zero Moment of Truth). Schematisch dargestellt ist dieser Zusammenhang in der untenstehenden Grafik.

Die Bedeutung des Zero Moment of Truth liegt darin, dass durch die heute verfügbare Technologie der Ort der ersten Information und der Ort des Kaufs vollkommen unabhängig voneinander sein können. Google hat dabei herausgefunden, dass 88% der amerikanischen Konsumenten sich vor einem Kauf über eine Suchmaschine über das Produkt informieren.
Exkurs: Suchverhalten und Mobile Micro Moments
Nicht immer ist aber die Suche nach einem Produkt oder Thema auch mit dem Wunsch des Kaufs verbunden. Google differenziert vier prinzipielle Wünsche, die hinter der Suche nach einem Thema oder Produkt stecken können:
- Get to know
Das Interesse an einem Thema oder Produkt steht im Vordergrund. Der Suchende ist auf der Suche nach Details und Informationen, will sich etwas näher ansehen. Beispielsweise sucht jemand nach technischen Spezifikationen eines neuen Smartphones. - Want to go
Die Absicht, etwas in der näheren Umgebung zu finden, steht im Vordergrund. Jemand sucht beispielsweise nach einem Thailändischen Restaurant oder einem Friseur. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sucht derjenige einen bestimmten Ort, den er dann später aufsuchen möchte. - Want to do
Anleitungen oder Inspiration für etwas Neues werden gesucht. Bestes Beispiel ist die Suche nach einem Rezept oder einer Bastelanleitung. Auch hier steht nicht der Wunsch nach einem Kauf im Fokus sondern der Wunsch nach Information im Sinne einer Anleitung. - Want to buy
Hier steht tatsächlich der Wunsch im Fokus, ein Produkt kaufen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt mögen auch Informationen noch relevant sein, jedoch geht es vordergründig um Preise und Services.
Wichtig ist an der Stelle zu verstehen, dass diese Micro Moments keine sukzessive Abfolge bilden, sondern völlig unabhängig voneinander sein können. Sie sind jeweils als Wunsch oder Motivation für die Suche zu sehen.
Customer Purchase Journey (Cundari 2015)
Das aus meiner Sicht vollständigste Modell zur Customer Journey hat Cundari 2015 postuliert. In seiner Customer Purchase Journey nimmt er verschiedene Verbesserungen vor und merzt somit deutliche Schwächen aus, die vorherige Modell ganz offensichtlich hatten. Er integriert insbes. die Methodik der Moments of Truth, ergänzt sie aber um die Erkenntnisse von Google und das veränderte Suchverhalten der potenziellen Käufer. Folgende Phasen sieht Cundari in seinem Modell:
- Awareness
Das Interesse an einem Service oder Produkt wird geweckt - Consideration
Ein bestimmtes Set von Marken und Produkten wird in Erwägung gezogen. Die Suche nach Informationen beginnt. - Evaluation
Der Zero Moment of Truth – also die Suche nach Informationen führt zur Ausbildung einer Präferenz. Jedes Stück Information kann diese Präferenz beeinflussen, hat aber auch Rückwirkungen auf die Consideration und ändert die relevanten Marken und Produkte. Das Modell ist also in diesem Zusammenhang nicht linear. - Purchase (First Moment of Truth)
Die Entscheidung ist gefallen, der Kauf wird getätigt. - Experience (Second Moment of Truth)
Die Nutzung des Produktes oder Services bestimmt darüber, ob der Kunde die Leistung weiterempfehlen wird. - Loyalty Loop
Bei Zufriedenheit wird der Loyalty Loop angestoßen, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass der Kunde bei der nächsten Kaufentscheidung die Phasen Consideration und Evaluation überspringt und der Marke treu bleibt. Bei Unzufriedenheit wird die Marke allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem relevanten Set der Marken verschwinden.

Fazit zur Customer Journey
In diesem Artikel haben wir einen historischen Rundumschlag gemacht und die wichtigsten Modelle zur Customer Journey betrachtet. Die Customer Purchase Journey von Cundari ist dabei ein Modell, dass die aktuellen Grundlagen bestmöglich zusammenführt, digitale Medien und den Zero Moment of Truth berücksichtigt, gleichzeitig aber auch den Loyalty Loop und dynamisches Feedback aus der Produkterfahrung (Second Moment of Truth) auf das relevante Produktset berücksichtigt.
Gleichsam soll der geneigte Leser aus dieser Zusammenfassung keine voreiligen Schlüsse ziehen: Das Modell kann nur einen oberflächlichen Eindruck der Mechanik einer Customer Journey vermitteln. Die eigentliche Arbeit beginnt nun erst:
Idealerweise werden auf Basis von Personas nun individuelle Customer Journeys entwickelt. Auf welchem Wege möchten wir potenzielle Interessenten erreichen und sie zu Kunden machen? Je nach Lebensumständen, Demographie, Bildung und Affinität zu digitalen Medien können da ganz unterschiedliche Customer Journeys herauskommen.
Aus diesen individuellen Journeys gilt es dann, die Essenz zu destillieren und sie in einen marktfähigen Funnel zu verwandeln, der für die individuelle Kundengewinnung funktioniert.
Also: Das Modell ist gut, es mit Leben zu füllen obliegt dem jeweiligen Marketier!
Links zur Customer Journey
Mehr Informationen zu einzelnen Modellen findet Ihr unter den folgenden Links. Gleichsam wurden diese Quelen zur Recherche für diesen Artikel genutzt.
- Das Buch von Cundari zur Customer Purchase Journey ist in Teilen bei Google Books verfügbar.
Ein Gedanke zu „Die digitale Customer Journey“