Die Tugend der Stärke – Das VIA-Modell als Kompass für menschliches Wachstum
Mit der Veröffentlichung ihres monumentalen Werks „Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification“ (2004) haben Christopher Peterson und Martin Seligman eine Wende in der Psychologie eingeläutet. Statt sich auf Störungen, Schwächen und Pathologien zu konzentrieren – wie es jahrzehntelang die Norm war –, richteten sie den Blick auf die konstruktive Frage: Was macht das Leben lebenswert? Und: Welche Stärken fördern menschliches Gedeihen, Sinn und ethische Reife – unabhängig von Herkunft, Kultur oder Religion?
Diese Fragen markieren den Beginn der Positiven Psychologie als eigenständiger Forschungszweig, der unter anderem durch Seligman, Fredrickson, Csikszentmihalyi oder Deci & Ryan geprägt wurde. Während klassische psychologische Modelle oft auf Mangel, Diagnose und Korrektur fokussieren, positioniert sich das VIA-Modell als systematische Landkarte menschlicher Stärken. Es ist damit ein Brückenschlag zwischen Anthropologie, Philosophie und moderner Psychologie – und ein Beitrag zu einer werteorientierten Führung, Bildung und Persönlichkeitsentwicklung.
Der zentrale Wirkmechanismus des Modells ist dabei keine abstrakte Theorie, sondern eine erfahrbare Praxis: Wer seine Stärken kennt, kultiviert und gezielt einsetzt, erlebt mehr Sinn, Flow, Motivation und Beziehungsqualität. Tugend wird nicht als moralische Pflicht verstanden, sondern als lebendige Ressource – individuell, sozial, wirksam.
Modellstruktur und Anwendungslogik: Die Ordnung der Stärken
Das VIA-Modell gliedert sich in sechs Tugenden, die als universelle, kulturübergreifende Qualitäten menschlichen Gelingens identifiziert wurden: Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz. Unter diesen Tugenden finden sich 24 konkrete Charakterstärken, die das individuelle psychologische Profil eines Menschen beschreiben. Sie sind weder willkürlich noch subjektiv, sondern wurden aus historischen, religiösen und philosophischen Quellen verdichtet und empirisch abgesichert.
Charakterstärken sind plastisch – nicht beliebig. Sie sind veränderbar, entwickelbar und kontextsensitiv. Eine Führungskraft, deren Signaturstärke in der „Urteilsfähigkeit“ liegt, wird anders entscheiden als jemand mit „Begeisterung“ oder „Humor“ als dominanter Stärke. Das VIA-Modell liefert damit keine Typologie, sondern ein Resonanzfeld für Selbstreflexion und Entwicklung.
Charakter zählt – Die Tugenden und Stärken des VIA-Modells im Überblick
Das VIA-Modell bietet einen systematischen Zugang zur Frage, was einen guten Menschen ausmacht – jenseits von Kultur, Religion oder Ideologie. Die hier versammelten Tugenden und ihre zugehörigen Charakterstärken bilden eine universelle Sprache menschlicher Exzellenz. Sie sind keine moralischen Gebote, sondern psychologische Ressourcen, die uns dabei helfen, ein sinnerfülltes, engagiertes und sozial eingebundenes Leben zu führen. Jede Tugend ist ein Themenfeld menschlicher Reifung – und jede Charakterstärke ein konkreter Ausdruck innerer Potenziale, die kultiviert werden können.
Die folgende Übersicht der Tugenden und Stärken im VIA-Modell entfaltet diese Struktur in ihrer Tiefe:
| Tugend | Charakterstärken | Erläuterung der Charakterstärken |
|---|---|---|
| Weisheit & Wissen | Kreativität Neugier Urteilsvermögen Liebe zum Lernen Weitsicht | Kreativität: Die Fähigkeit, neue, nützliche und oft überraschende Wege zu denken und zu gestalten. – Neugier: Ein lebendiges Interesse an der Welt, das Fragen stellt, entdeckt und offen bleibt. – Urteilsvermögen: Die Gabe, Informationen differenziert zu betrachten und wohlüberlegt zu entscheiden. – Liebe zum Lernen: Die intrinsische Freude, sich weiterzuentwickeln und Wissen zu vertiefen. – Weitsicht: Ein tiefer Sinn für das große Ganze, für Zusammenhänge, Bedeutung und Lebenssinn. |
| Mut | Tapferkeit Ausdauer Ehrlichkeit Tatendrang | Tapferkeit: Der Wille, trotz Angst, Kritik oder Gefahr für das Richtige einzustehen. – Ausdauer: Die Fähigkeit, ein Ziel beharrlich zu verfolgen – auch wenn es mühsam wird. – Ehrlichkeit: Authentizität, Aufrichtigkeit und ein klares Bekenntnis zur eigenen Wahrheit. – Tatendrang: Begeisterung, Energie und die Bereitschaft, mit Freude ins Handeln zu kommen. |
| Menschlichkeit | Bindungsfähigkeit (Liebe) Freundlichkeit Soziale Intelligenz | Liebe: Die Fähigkeit zu tiefen, verlässlichen Beziehungen, geprägt von Vertrauen und Verbundenheit. – Freundlichkeit: Wohlwollen, Hilfsbereitschaft und das aktive Bemühen, anderen Gutes zu tun. – Soziale Intelligenz: Das Gespür für zwischenmenschliche Dynamiken, Stimmungen und Bedürfnisse. |
| Gerechtigkeit | Teamfähigkeit Fairness Führungsvermögen | Teamfähigkeit: Der konstruktive Beitrag zum Gelingen gemeinsamer Aufgaben, gepaart mit Loyalität. – Fairness: Das Streben nach Gleichbehandlung, Objektivität und dem Ausgleich von Interessen. – Führungsvermögen: Die Fähigkeit, Gruppen zu koordinieren, zu inspirieren und Verantwortung zu übernehmen. |
| Mäßigung | Vergebungsbereitschaft Bescheidenheit Vorsicht Selbstregulation | Vergebungsbereitschaft: Die Kraft, Verletzungen loszulassen und Versöhnung zu ermöglichen. – Bescheidenheit: Die Fähigkeit, den eigenen Wert zu kennen, ohne ihn zur Schau zu stellen. – Vorsicht: Vorausschauendes, reflektiertes Handeln, das Risiken bewusst abwägt. – Selbstregulation: Der souveräne Umgang mit Impulsen, Emotionen und inneren Spannungen. |
| Transzendenz | Sinn für das Schöne & Exzellenz Dankbarkeit Hoffnung Humor Spiritualität | Sinn für das Schöne & Exzellenz: Die Freude an Ästhetik, Qualität und dem, was Menschen über sich hinauswachsen lässt. – Dankbarkeit: Die bewusste Wertschätzung des Guten – in Menschen, Momenten und Erfahrungen. – Hoffnung: Die feste Überzeugung, dass Zukunft gestaltbar und Gutes möglich ist. – Humor: Die Fähigkeit, das Leben mit Leichtigkeit zu nehmen und andere zum Lächeln zu bringen. – Spiritualität: Die Suche nach Sinn, Verbundenheit und einem tieferen Verständnis des Daseins. |
VIA-Modell Systematik und Anwendung
Die Struktur des VIA-Modells basiert auf einem anthropologisch und kulturvergleichend begründeten Verständnis von Tugend – verstanden als bewährte Praxis menschlicher Reife. Jede Tugend bildet ein Wertekontinuum, das sich durch ihre zugeordneten Charakterstärken konkretisiert. Diese Stärken wiederum sind keine abstrakten Ideale, sondern alltagstaugliche Ressourcen: beobachtbar, trainierbar, reflektierbar.
Wer sich auf das VIA-Modell einlässt, entdeckt nicht nur seine Signaturstärken, sondern auch Entwicklungsfelder – nicht im Sinne von Defiziten, sondern als Einladung zu wachstumsorientierter Selbstführung. Gerade in Zeiten organisationalen Wandels, persönlicher Übergänge oder kollektiver Neuausrichtung kann das Modell als Orientierungshilfe dienen: für Feedbackprozesse, Teamkultur, Führungsentwicklung – oder einfach als innere Landkarte für ein gelingendes Leben.
Die Anwendung in der Praxis beginnt bei der Selbsterkenntnis. Der VIA-IS-Test identifiziert die persönlichen Signaturstärken – jene Stärken, die besonders charakteristisch, energiegebend und sinnerfüllt erlebt werden. Doch der wahre Wert liegt in der Integration dieser Erkenntnis in den Alltag:
- Wer mit seiner Signaturstärke arbeitet, erlebt mehr Motivation und Wirksamkeit.
- Wer Stärken seiner Kolleg:innen erkennt, kann gezielter delegieren und Entwicklung fördern.
- Wer erkennt, dass bestimmte Herausforderungen eine bestimmte Stärke „einladen“, entwickelt ein feines Gespür für situationsgerechtes Handeln.
In der Führungspraxis etwa zeigt sich die Bedeutung der Stärkenvielfalt: Eine Organisation braucht Mutige und Weitsichtige, Enthusiastische und Reflektierende, Freundliche und Entscheidungsfreudige. Das VIA-Modell schafft eine Sprache, um diese Vielfalt wertschätzend zu benennen und gezielt zu nutzen – ohne in starren Rollenbildern zu verharren.
Herausforderungen und Lernfelder entstehen, wenn Stärken übersteuert oder nicht erkannt werden: Wer etwa „Ehrlichkeit“ hoch ausgeprägt hat, kann in sensiblen Kontexten ungewollt verletzen. Wer „Teamfähigkeit“ lebt, kann sich selbst überfordern, wenn individuelle Bedürfnisse vernachlässigt werden. Hier bietet das Modell Reflexionsansätze, um aus Stärke keine Schwäche werden zu lassen – und um persönliche Entwicklungsfelder mit einer positiven Haltung zu erkunden.
Der Schlüssel ist Integration, nicht Idealismus. Das VIA-Modell fordert nicht, perfekt zu sein. Es lädt ein, bewusster zu sein: im Selbstbild, im Miteinander, im beruflichen und privaten Handeln. In Teams kann es als Grundlage für Peer-Coaching, Feedbackgespräche oder kulturelle Wertearbeit genutzt werden. In Organisationen dient es als Fundament für wertorientierte Führung, nachhaltige Entwicklung und resiliente Kultur.
Positive Psychologie – das VIA-Modell: Charakter als Ressource, nicht als Norm
Das VIA-Modell von Peterson und Seligman eröffnet einen ermutigenden Blick auf das menschliche Potenzial. Es ersetzt keine Strategien oder Strukturen, aber es bringt Tiefe, Richtung und Sinn in Entwicklungsvorhaben. In einer Zeit, in der Wandel, Unsicherheit und Komplexität zur neuen Normalität geworden sind, wirkt der Blick auf Charakterstärken wie ein moralisches und emotionales Navigationsinstrument.
Nicht Kontrolle, sondern Kohärenz wird zur Führungskraft. Nicht Macht, sondern Menschlichkeit wird zur Wirkkraft. Und nicht das Ideal der Perfektion, sondern die Kunst, das Beste im Menschen zu erkennen – und zur Wirkung zu bringen.
Literatur zu Positive Psychologie – das VIA-Modell
Autor: Christopher Peterson, Martin E.P. Seligman
- Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification (2004)
Das Standardwerk der Positiven Psychologie bietet eine systematische Klassifikation von 24 Charakterstärken, gebündelt in sechs universellen Tugenden (Weisheit, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Transzendenz).
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