Situational Leadership

Situational Leadership – Führen heißt Verstehen, nicht Festhalten

Führung beginnt nicht mit einer Methode – sondern mit Wahrnehmung. Situational Leadership, das von Paul Hersey und Ken Blanchard entwickelte Modell, ist kein Dogma, sondern eine Einladung zur Aufmerksamkeit. Es fordert nicht, dass Führungskräfte wissen, wie sie sich immer verhalten sollen. Sondern dass sie herausfinden, was jetzt gebraucht wird – für diese Person, bei dieser Aufgabe, in diesem Moment.

1. Der theoretische Rahmen von Situational Leadership – Führung als Anpassungsleistung

Als Hersey und Blanchard in den 1960er-Jahren begannen, über Führung nachzudenken, war die Managementwelt von klaren Typologien geprägt: autoritär oder kooperativ, direktiv oder partizipativ – Schwarz oder Weiß. Ihr gemeinsames Werk „Management of Organizational Behavior“ (Erstauflage 1969) brach mit diesem Entweder-oder. Es stellte eine einfache, aber revolutionäre These auf: Führung ist effektiv, wenn sie sich anpasst.

Theoretisch verankert ist das Modell in der entwicklungsorientierten Führung – stark beeinflusst von der Humanistischen Psychologie (u. a. Maslow, Rogers) sowie von Lewins Führungstypologie. Es steht in enger Verwandtschaft zu Modellen wie dem Reifegradkonzept nach Tannenbaum und Schmidt, zur transformationalen Führung und – im weiteren Sinn – zur systemischen Führung, da es die Interaktion von Person, Kontext und Aufgabe betont.

Was das Modell so wirksam macht, ist sein pragmatischer Kern: Führung ist keine Eigenschaft – sie ist eine Handlung, die immer auf einen spezifischen Kontext trifft. Und genau dieser Kontext, so Hersey und Blanchard, ist veränderlich: Menschen entwickeln sich. Ihre Kompetenzen wachsen, ihre Motivation schwankt, ihre Erfahrung differenziert sich. Deshalb darf Führung nicht statisch sein. Sondern muss sich bewegen.

Die zentralen Wirkmechanismen sind Diagnose, Anpassung und Entwicklung. Diagnose: Erkennen, was die Person für diese Aufgabe braucht. Anpassung: Den Führungsstil flexibel danach ausrichten. Entwicklung: So führen, dass der Mitarbeitende künftig mehr selbst kann – und weniger geführt werden muss.

2. Die Modellstruktur von Situational Leadership– Wenn Reife entscheidet

Im Zentrum des Situational Leadership-Modells steht die Idee des Reifegrads – nicht als pauschale Bewertung eines Menschen, sondern als aufgabenbezogenes Maß aus Kompetenz und Motivation. Menschen sind nicht reif oder unreif, sondern entwickeln sich entlang konkreter Anforderungen. Die Frage lautet also nicht: „Wie ist mein Mitarbeiter?“ Sondern: „Was braucht er oder sie jetzt – bei dieser Aufgabe?“

Daraus leiten sich vier Führungsstile ab, die sich aus der Kombination zweier Dimensionen ergeben: Aufgabenorientierung (Was soll getan werden?) und Beziehungsorientierung (Wie unterstütze und begleite ich dabei?).

Am Anfang steht das Anweisen. Der Mitarbeitende hat wenig Erfahrung und ist unsicher – also braucht er klare Vorgaben, strukturierte Anleitungen und enges Feedback. Die Führungskraft tritt hier als Trainer auf – nicht fordernd, sondern richtungsgebend. Entscheidend ist, dass sie nicht kontrollierend agiert, sondern Orientierung gibt, ohne zu überfordern. Aufgabe: Sicherheit schaffen.

Wächst die Motivation, aber fehlen noch Fähigkeiten, wechselt die Rolle der Führungskraft ins Argumentieren. Jetzt geht es darum, zu erklären, zu motivieren, Rückfragen zu beantworten. Der Mitarbeitende will – aber er weiß noch nicht genau wie. Die Führungskraft begleitet diesen Prozess mit hoher Präsenz, aber zunehmend weniger Struktur. Die Herausforderung: Begeisterung nicht verpuffen lassen.

In der dritten Phase, wenn der Mitarbeitende fachlich stark ist, aber an Motivation oder Selbstvertrauen verliert, wird die Führungskraft zum Beteiligenden. Jetzt ist nicht Struktur gefragt, sondern Beziehung. Zuhören, Vertrauen zeigen, gemeinsam Lösungen entwickeln. Wer hier dirigiert, zerstört Autonomie. Wer loslässt, ohne zu begleiten, riskiert Rückzug. Führung heißt hier: Verbindung halten.

Schließlich folgt das Delegieren. Der Mitarbeitende ist kompetent und motiviert – Führung darf sich zurückziehen. Aber nicht ins Desinteresse: Delegation bedeutet nicht Abgabe, sondern Anerkennung. Die Führungskraft schafft Freiraum, bleibt aber ansprechbar. Die Beziehung basiert auf Vertrauen und Klarheit. Führung wirkt hier durch Loslassen.

In jeder dieser Phasen verändert sich nicht nur das Verhalten der Führungskraft – sondern auch ihre innere Haltung. Statt „Ich führe immer so, wie ich bin“ gilt nun: Ich führe so, wie es gebraucht wird. Das bedeutet: beobachten, zuhören, wahrnehmen. Führung wird zur Beziehungsarbeit auf Augenhöhe.

Die vier Führungsstile im Situational Leadership

StilBeschreibungAnwendung bei Reifegrad
AnweisenHohe Aufgabenorientierung, niedrige Beziehungsorientierung: Klare Vorgaben, KontrolleGeringe Fähigkeit, geringe Motivation (Reifegrad 1)
ArgumentierenHohe Aufgaben- und hohe Beziehungsorientierung: Erklären, überzeugen, motivierenGeringe Fähigkeit, hohe Motivation (Reifegrad 2)
BeteiligenNiedrige Aufgaben-, hohe Beziehungsorientierung: Einbeziehen, gemeinsam entscheidenHohe Fähigkeit, geringe Motivation (Reifegrad 3)
DelegierenNiedrige Aufgaben- und Beziehungsorientierung: Verantwortung und Entscheidung übertragenHohe Fähigkeit, hohe Motivation (Reifegrad 4)
Die vier Führungsstile im Situational Leadership

Das Lernfeld? Ambiguität aushalten. Sich selbst zurücknehmen. Und zugleich klar bleiben. Die zentrale Kompetenz: situative Urteilskraft. Wer diese beherrscht, erkennt: Effektive Führung ist keine Frage des Stils, sondern der Passung.

Situational Leadership – Führung, die sich bewegt, bewegt mehr

Situational Leadership ist kein Schema – sondern eine Haltung. Es fordert Flexibilität, ohne Beliebigkeit zu produzieren. Es erlaubt Führungskräften, gleichzeitig klar und empathisch, strukturierend und loslassend zu sein – je nachdem, was die Situation verlangt.

In Zeiten, in denen Selbstorganisation, Hybridarbeit und individuelle Entwicklung im Zentrum stehen, wirkt dieses Modell aktueller denn je. Es bietet keine einfachen Antworten, aber eine klare Denkweise: Führung ist dann erfolgreich, wenn sie Menschen hilft, sich zu entwickeln. Dafür braucht es keine einheitliche Methode – sondern differenzierte Aufmerksamkeit. Wer situativ führt, lernt nicht nur, besser zu führen. Sondern auch: besser zuzuhören.

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