Zukunft entsteht nicht aus Analyse, sondern aus Vorstellungskraft – Solution-Focused Coaching nach Steve de Shazer
Steve de Shazer, ursprünglich Musiker und später Mitbegründer des Brief Family Therapy Center in Milwaukee, prägte mit seiner Frau Insoo Kim Berg ab den 1980er Jahren einen der radikalsten Perspektivwechsel in der Geschichte psychologischer und beratender Berufe: weg vom Problem, hin zur Lösung. Ihr Ansatz, festgehalten etwa in „Patterns of Brief Family Therapy“ (1982) und „Words Were Originally Magic“ (1994), stellte die klassische Problemanalyse infrage und öffnete einen neuen Denkraum, in dem Veränderung nicht rückwärts erklärt, sondern vorwärts erdacht wird.
Solution-Focused Coaching ist ein Kind der systemischen Denkschule, beeinflusst von Konstruktivismus, Kybernetik zweiter Ordnung und narrativer Therapie. Der Mensch wird nicht als defizitär, sondern als autonom und kompetent betrachtet – ausgestattet mit allem, was nötig ist, um Lösungen zu finden. Der Coach agiert nicht als Experte für Probleme, sondern als Ermöglicher für Ideen, Visionen und erste Schritte.
Was diesen Ansatz so wirksam macht, ist seine radikale Einfachheit: Statt sich zu fragen, „Warum ist das Problem da?“, lautet die zentrale Frage: „Wie sieht es aus, wenn es weg ist – und was tun wir dann?“ Dieser Gedankensprung aktiviert das Imaginative, das Ressourcenvolle, das Praktische. Veränderung beginnt nicht bei der Ursache, sondern bei der Vorstellungskraft.
Modellstruktur und Anwendungslogik: Coaching als Kunst des Möglichmachens
Das solution-focused Coaching folgt keinem starren Ablauf, sondern lebt von der Haltung, mit der der Prozess gestaltet wird. Dennoch lassen sich zentrale Prinzipien und Gesprächselemente identifizieren, die – in ihrer Einfachheit – eine tiefgreifende Wirkung entfalten.
Zielfokussierung: Die erwünschte Zukunft als Startpunkt
Der Prozess beginnt nicht mit dem Problem, sondern mit der Frage: „Was wäre anders, wenn das Coaching erfolgreich ist?“ Die Vision einer besseren Zukunft wird zur Richtschnur des gesamten Prozesses. Zieldefinition wird dabei nicht zur Checkliste, sondern zur Erkundung einer lebendigen, motivierenden Wirklichkeit. Das Ziel ist konkret, beobachtbar, attraktiv – nicht im Sinne von SMART, sondern im Sinne von meaningful.
Lernfeld: Menschen tun sich oft schwer, das zu benennen, was sie wirklich wollen. Das Coaching hilft, vage Hoffnungen in handfeste Beschreibungen zu überführen.
Mindset: Zukunft ist gestaltbar – nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Vorstellungskraft heraus.
Ressourcenaktivierung: Was funktioniert schon?
Der Coach fragt nicht: „Was fehlt Dir?“, sondern: „Was hilft Dir jetzt schon – zumindest ein bisschen?“ Ressourcen werden nicht erfunden, sondern entdeckt: in Ausnahmen, in bewährten Strategien, in unbewussten Kompetenzen. Selbst dort, wo es scheinbar nichts zu holen gibt, findet sich oft ein kleiner Riss im Problemgewebe – ein Moment, ein Gedanke, ein Mikroerfolg, der den Weg weist.
Herausforderung: Die Tendenz zur Selbstabwertung und Defizitorientierung ist tief verankert.
Lernfeld: Aufmerksamkeit umlenken – auf Handlungsspielräume, nicht auf Engpässe.
Mindset: Ich kann schon mehr, als ich denke.
Ausnahmen nutzen: Wenn es schon mal anders war
Ein Kernelement des Modells ist die Suche nach „Ausnahmen“ – Momenten, in denen das Problem nicht oder weniger stark auftritt. Diese Ausnahmen werden nicht analysiert, sondern erweitert: „Was genau hast Du da anders gemacht?“ So wird aus einem zufälligen Ereignis ein bewusstes Handlungsmuster. Coaching wird zur Kunst der Entdeckung – nicht der Erfindung.
Herausforderung: Nicht zu früh nach Ursachen fragen („Warum war das so?“), sondern bei der Handlung bleiben.
Lernfeld: Mustererkennung, nicht Ursachensuche.
Mindset: Kleine Unterschiede können große Wirkung haben.
Die Wunderfrage: Zukunft als Hebel
Eine der kraftvollsten Interventionen im Solution-Focused Coaching ist die berühmte Wunderfrage: „Stell Dir vor, heute Nacht geschieht ein Wunder – und das Problem ist verschwunden. Woran würdest Du es morgen als erstes merken?“ Diese Frage öffnet die Tür zur gewünschten Zukunft – und ermöglicht die Beschreibung konkreter Verhaltensweisen, Denk- und Gefühlsmuster. Aus dem Imaginären wird Handlungswissen.
Herausforderung: Klient:innen fantasieren oft zu abstrakt („Ich wäre glücklicher“).
Lernfeld: Differenzierung und Konkretion der Zukunftsbeschreibung.
Mindset: Ich bin Schöpfer*in meiner Zukunft – nicht Opfer meiner Vergangenheit.
Skalierungsfragen: Fortschritt sichtbar machen
Skalierungsfragen – etwa „Auf einer Skala von 0 bis 10, wo stehst Du heute?“ – schaffen Klarheit, machen Entwicklung messbar und laden zur Reflexion ein: „Was macht den Unterschied zwischen 3 und 4 aus? Was müsste passieren, um auf 5 zu kommen?“ Statt Zielerreichung als binär (da oder nicht da) zu sehen, wird sie zum Kontinuum. Fortschritt wird feiner, differenzierter, mutiger wahrgenommen.
Herausforderung: Der Wunsch nach schnellen, finalen Lösungen.
Lernfeld: Lernen, sich über kleine Fortschritte zu freuen – statt sich an der Perfektion zu messen.
Mindset: Veränderung ist ein Prozess – nicht ein Sprung.
Solution-Focused Coaching: Einladung zur Selbstwirksamkeit
Solution-Focused Coaching nach Steve de Shazer ist kein Toolset, sondern eine Haltung: Wer den Blick auf das Mögliche richtet, beginnt, Wirklichkeit zu gestalten. Der Coach wird zum Ermöglicher – nicht zum Problemlöser. Der Coachee wird zur aktiven Instanz – nicht zum Analyseobjekt. Und Veränderung beginnt genau dort, wo Zukunft nicht mehr erklärt, sondern imaginiert, beschrieben und ausprobiert wird.
In einer Welt, die Komplexität oft mit Kontrolle begegnet, zeigt dieser Ansatz: Es braucht nicht mehr Analyse, sondern mehr Vertrauen in Ressourcen, in Fantasie, in die Kraft des ersten kleinen Schritts. Denn manchmal beginnt die große Lösung mit der einfachen Frage: „Was funktioniert schon – und wie machen wir mehr davon?“
Literatur zum Solution-Focused Coaching
Autor: Steve de Shazer
- Keys to Solution in Brief Therapy (1985)
De Shazer entwickelt die Grundlagen lösungsfokussierten Denkens, das später auch im Coaching adaptiert wurde. Er legt den Fokus konsequent auf vorhandene Ressourcen und gewünschte Zukunft, statt auf Problemanalyse.
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